Jürgen Klauke wird 80Ein fantastisches Mängelwesen mit mehr Identitäten, als man zählen kann

Lesezeit 4 Minuten
Jürgen Klauke posiert achtmal für die Kamera und wirkt dabei zunehmend androgyner.

Ich ist ein Anderer oder eine Andere: Jürgen Klaukes „Physiognomien“ aus den Jahren 1972/73

Jürgen Klauke, Kölner Künstler und Pionier der queeren Kunst, wird am 6. September 80 Jahre alt. Eine Würdigung.

„Meine Kunst ist mehr Gift als Genussmittel“, sagte Jürgen Klauke, als er vor einigen Jahren in seine geheimen, aber vor allem gezeichneten Tagebücher blicken ließ. Was dem Kölner Künstler beim einsamen Malen so durch den Kopf schwirrt, ist für manchen wohl tatsächlich eine berauschende Mixtur aus Tusche und Absinth: Männer mit Kopfrüssel, Frauen ohne Oberleib, aus Augenhöhlen baumelnde Sehnerven - die ganze, so Klauke, „groteske Unzulänglichkeit des Daseins“.

Bei Jürgen Klauke ist der Surrealismus vor allem ein Mittel, den Mensch als fantastisches Mängelwesen zu beschreiben, also als das zu sehen, was er ist. Dass dieser Spiegelblick nicht jedermanns Geschmack ist, kann Klauke gut verstehen. Aber für Konzessionen ans Betuliche, sagt er, sei er und sei die Kunst nun mal nicht zuständig. Sie solle uns vielmehr geradewegs in die Krise führen und zeigen, wer und was wir unter dem schönen Schein des Selbstbetrugs in Wahrheit sind.

Jürgen Klauke erprobte sich in den 1970er Jahren in Aliasfiguren aller Art

Aber da lauert bei Klauke schon der nächste Abgrund. Schließlich hat er in den 1970er Jahren alles dafür getan, sich hinter Tausend Foto- und Videomasken zu verlieren. Als Geschlecht und Identität noch nicht zum festen Repertoire jeder gesellschaftlichen Diskussion gehörten, zog er als „Ziggi Stardust“ mit kalkweißer Mephisto-Maske durch die Lande, er war der „Transformer“ in rotem Lack und Leder, ein mit Dildos und Präservativen wie ein Weihnachtsbaum behängter Abgesandter aus „Dr. Müllers Sex-Shop“ und darüber hinaus eine schier unüberschaubare Anzahl von „Ich + Ichs“. Man könnte seinen Lebenslauf allein mit seinen Aliasfiguren schreiben und käme ihm damit doch nicht auf die Spur: Jürgen Klauke hat die Verwandlungskunst so weit getrieben, dass man in ihm vor allem die große multiple Persönlichkeit der deutschen Nachkriegskunst erkennt.

Es versteht sich beinahe von selbst, dass selbst eine Millionenstadt für so viele Identitäten irgendwann zu klein ist. Und doch fand Klauke in seiner Wahlheimat Köln eine dankbare Bühne für seine exzessiven, gelegentlich auch blasphemischen Rollenspiele. Er posierte in Strapsen und als Jesus-Figur und teilte mit Glam-Rockern wie David Bowie die Lust an Schminke und Kostüm. Auch so konnte man in den 1970er Jahren Karneval und Katholizismus interpretieren und die große weite Welt der Androgynität ins Veedel holen.

Jürgen Klauke posiert mit roter Lackhose, weiß geschminkten Gesicht und vor die Brust geschnallten Dildos.

Der Kölner Künstler Jürgen Klauke 1973 als „Transformer“

Allerdings muss wohl auch einen derart virtuosen Selbstdarsteller der Exzess schließlich ermüden. Eines Tages tauschte Klauke die Federboa gegen die schwarze Künstleruniform - oder wie auf dem 12-teiligen Fototableau „Das menschliche Antlitz im Spiegel soziologisch-nervöser Prozesse“ (1976/77) gegen Schlips und Kragen eines Angestellten. Auf diesem genialen Dutzendwerk reserviert Klauke für die Stützen der Gesellschaft stets denselben grimmigen und für deren Außenseiter denselben feixenden Gesichtsausdruck. Der „Künstler“ reiht sich dabei unter die „Anarchisten“, „Mörder“, „Schwulen“, „Süchtigen“ und „Schwachsinnigen“ ein; alles Identitäten, in denen sich Klauke wohl wiederfindet. Aber natürlich schlummern diese Möglichkeiten für ihn in allen Menschen, auch wenn dies der Richter und der Heilige nicht wahrhaben wollen.

In den 80er Jahren stieß sich Jürgen Klauke endgültig die um die Brust geschnallten Dildohörner ab, später wurde er sogar ordentlicher Professor an der Kölner Kunsthochschule für Medien. Das Ruhebett eines modernen Klassikers war trotzdem nichts für ihn; lieber legt er sich bis heute spielerisch mit anderen Größen der Kunstgeschichte an. Für seine Fotoserie „Brancusi-Block“ (2017) stapelte er, nach dem Vorbild der Brancusi-Säulen, jeweils fünf bis sechs Kloschüsseln aus dem Sanitärmarkt übereinander, leuchtete diese in Mannshöhe endenden Skulpturen wie bei einer Porträtsitzung aus und fotografierte sie vor dunklem Hintergrund von allen Seiten in Schwarz-Weiß.

Der Eindruck dieser großformatigen Aufnahmen ist nichts weniger als triumphierend - als wäre Napoleon soeben siegreich vom stillen Örtchen heimgekehrt. Es geht also auch in diesen Spätwerken um eines von Klaukes großen Themen: den Körper als Sinnbild menschlicher Lebenslust und ebenso menschlicher Unzulänglichkeit. Am 6. September wird Jürgen Klauke, das fantastische Mängelwesen, 80 Jahre alt.

KStA abonnieren